Ich werde diesen Tag nie vergessen, denn er hat sich in meinem Herzen eingebrannt, wie kaum ein zweiter. Es war Montag, ein ganz normaler Tag. Die Sprechstunde begann recht harmlos – hier eine Impfung, da eine Wunde. Doch wie an so vielen „ganz normalen“ Tagen geriet der Plan in der Praxis allmählich aus den Fugen: Je weiter der Tag fortschritt, desto mehr geriet ich in Zeitbedrängnis. Das passiert ganz schnell. Ein Kunde möchte zu der vereinbarten Impfung doch noch die Krallen geschnitten haben. Der nächste hat noch die zweite Katze mitgebracht, weil sie gestern gehustet hat und dazwischen kommt ein Notfall rein, den wir schnell einschieben müssen. Nach anstrengenden drei Stunden Rennerei mit einem mittlerweile leicht gequälten Lächeln – meine Kunden sollten schließlich nicht merken, dass ich im Stress war – ließ ich mich aufseufzend in meinen Sessel hinter dem Schreibtisch sinken. Meine Angestellte bat den letzten Kunden herein. Es handelte sich um ein Pärchen mit einem kleinen Mischling. Die drei hatten bereits über eine Stunde gewartet. Da ich ihrem kleinen Hund, der monatelang eine unerkannte Muskelerkrankung mit sich herumtrug, sehr geholfen hatte, waren sie noch milde gestimmt.
Ich bat sie erneut um Entschuldigung, dass sie so lange hatten warten müssen und fragte, wie es dem kleinen Schatz gehe. Das Pärchen berichtete über die Fortschritte des kleinen Hundes, der auch einen recht guten Eindruck machte. Während ich zuhörte, wanderte mein Blick auf die Uhr, die über dem Kühlschrank hing. Ich nahm die Uhrzeit zunächst gar nicht wahr. Doch als ich erkannte, dass es bereits 12:38 Uhr war, durchzuckte mich ein Schock. Das Adrenalin schoss in Millisekunden durch meinen ganzen Körper. Mein Herz sank in die Hose und ich sprang auf wie ein geölter Blitz. Die Besitzer des kleinen Hundes waren verständlicherweise erschrocken und starrten mich erstaunt an. Doch ich konnte darauf keine Rücksicht nehmen und schaffte gerade noch den Besitzern ein: „Bitte entschuldigen Sie vielmals, aber ich muss kurz weg. Ich bin in 15 Minuten zurück“ zuzurufen und rannte Hals über Kopf aus der Praxis. Ich sprang in mein Auto und raste los – mit 50 durch die 30iger Zone.
Was passiert war? Ich hatte meinen Sohn vergessen, meinen süßen, gerade 3 Jahre alten lieben Sohn – oder vielmehr seine Abholzeit im Kindergarten. Zwischen zwölf und halb eins mussten die Kinder abgeholt werden und meistens schaffte ich das – um eine Minute vor halb eins. Aber an diesem Tag hatte ich ihn das erste Mal vergessen. Auf dem kurzen Weg in den Kindergarten liefen mir die Tränen der Verzweiflung die Wangen herunter. Ich fühlte mich so mies. Ich schimpfte mich selbst eine Rabenmutter und – ich fühlte mich richtig mies – eine schlechte Tierärztin. Es war wie so oft die Spitze auf meinem Stress-Berg von drei Kindern, dem Haushalt, dem Alltagswahnsinn und einer eigenen Praxis als Tierärztin, von der eine Erreichbarkeit rund um die Uhr erwartet wird.
Abgehetzt und verheult kam ich im Kindergarten an. Die Leiterin empfing mich mit einem vorwurfsvollen Blick. Doch als sie meinen Zustand sah, milderte sich der strenge Ausdruck. Ich erklärte ehrlich, was passiert war. Zum Glück hatte sie selbst eine Katze und damit einigermaßen Verständnis. Sie brachte mich zu meinem süßen, lieben Sohn, der freudig lächelte, als er mich sah und kein bisschen ängstlich oder sauer war. Ich nahm ihn mit in die Praxis – es ging mir nun schon besser. Meine TFA übernahm meinen Sohn und ich ging ins Sprechzimmer zurück. Wortreich erklärte ich den Kunden mein Dilemma, erzählte ehrlich, dass ich vor Stress meinen Sohn vergessen hatte abzuholen. Um Verständnis bittend gestand ich, dass mein Leben als Mutter und Tierärztin nicht immer einfach sei – im Gegenteil. Das Paar nahm die Erklärung hin. Doch ihr Blick und mein Bauchgefühl sagten mir, dass sie etwas pikiert waren. Ich konnte trotz wortreicher Rede nicht herausfinden, ob es war, weil ich sie sitzen ließ – schon wieder – oder ob sie sich fragten, wie man seinen Sohn vergessen kann.
Am Ende ging das Paar mit ihrem kleinen Hund nach Hause. Ich sah sie in meiner Praxis nie wieder. Das Ereignis aber ließ mich tagelang nicht los und – wie man merkt – ich denke auch heute noch öfter daran, obwohl die Geschichte nun schon 7 Jahre her ist. Ich habe nie wieder meinen Sohn in der Kita vergessen, auch wenn mich ab und an ein Notfall daran gehindert hat, rechtzeitig zu kommen. Aber dann rief ich in der Kita an und fand Verständnis. Mein Leben ist heute nicht einfacher. Der Spagat zwischen einer guten Mutter und einer eigenen Praxis ist mehr als nur schwierig. Immer wieder mal saß und sitze ich abends weinend auf dem Sofa und wollte alles hinwerfen. Aber ich bin beides mit vollem Herzen: Mutter UND Tierärztin. Deshalb meine Bitte:
Wenn Sie bei Ihrem Tierarzt mal besonders lange warten müssen oder er/sie plötzlich losrennt und Sie sitzen lässt: Haben Sie Verständnis! Wir tun alles, um jedem Kunden, jedem Tier gerecht zu werden. Und wir tun nie etwas, um Sie zu ärgern. Aber wir sind auch nur Menschen und – selbst wenn wir gern über uns herauswachsen würden – wir haben Grenzen und ein Leben neben der Praxis.
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