Ich bin Tierärztin und ich liebe diesen Job – eigentlich. Denn es gibt Tage, da wünsche ich mich ganz weit weg. Warum? Weil das Leid, das wir von Zeit zu Zeit sehen, schlicht unerträglich ist. Und von so einem Leid möchte ich heute erzählen. Ich habe diese Geschichte (zum Glück) nicht selbst erlebt, sondern eine liebe Kollegin. Sie hat sie mir erzählt und ich versuche, sie so genau wie möglich wiederzugeben.
„Es war am späten Nachmittag eines ganz normalen Arbeitstages. Im Kopf war ich schon fast zu Hause und freute mich auf den Feierabend. Doch wie sollte es anders sein: das Handy klingelte. Ein Pferd kolikte in einem Stall ganz in der Nähe. Ich drehte um und fuhr sofort hin. Dort erwartete mich ein alter Wallach, schon über die 20 Jahre hinaus, der offensichtlich starke Schmerzen hatte.
Kolik bedeutet grundsätzlich nichts anderes als Bauchschmerzen. Die Gründe und Ursachen können vielseitig sein. Doch so harmlos sich das anhört: Der Magen-Darmtrakt des Pferdes ist über 30 Meter lang und recht empfindlich gegen Störungen seiner Funktion. Es können sich Gase bilden, die Beweglichkeit gestört sein oder der Darm sogar komplett verstopft sein. Im schlimmsten Fall verdrehen sich die Darmschlingen und das Gewebe stirbt ab. All das führt das nicht nur zu unerträglichen Schmerzen, sondern darüber hinaus sehr schnell zu lebensgefährlichen Situationen. Denn wenn man bedenkt, wieviel Volumen der Darm im Pferdekörper einnimmt, kann man sich gut vorstellen, dass eine Entzündung hier schnell Auswirkungen auf den Wasserhaushalt und das Herz-Kreislauf-System hat. Und genau das war hier der Fall:
Das Pferd befand sich in einem erbarmungswürdigen Zustand. Der Kreislauf war im Keller und der Wallach so ausgetrocknet, dass man sein Herz förmlich an der Brustwand schlagen sah. Ich hörte alle vier Quadranten des Pferdebauches ab, denn so bekomme ich wichtige Informationen, wo das Problem liegt. Leider waren nirgendwo normale Darmgeräusche zu hören. Das legte den Verdacht nahe, dass es sich vielleicht wirklich um eine komplette Verstopfung des Darms handelt. Ich riet den Besitzern, das Pferd in eine Klinik zu fahren. Doch das lehnten sie ab. Ich sollte tun, was ich konnte. Also tat ich, was ich konnte. Da sich der Darm bei der rektalen Untersuchung noch ohne Befund darstellte (ja, auch das gehört immer zu seiner Kolik-Untersuchung dazu), gab ich dem armen Kerl zuerst einmal ein starkes, krampflösendes Schmerzmittel. Über eine Nasen-Schlundsonde versorgte ich ihn mit Paraffinöl und Glaubersalz, um den Darm wieder in Schwung zu bekommen und über die Vene bekam er einige Liter Flüssigkeit. Während der Behandlung entspannte sich der Wallach zusehends und als ich fuhr, war er deutlich munterer. Doch die Erfahrung zeigt, dass man sich schnell zu früh freut. Und mein Gefühl sagte mir, dass ich nicht das letzte Mal bei dem Wallach war. Ich klärte die Besitzer auf, dass der Wallach noch nicht über den Berg sei. Ich schätzte die Prognose eher schlecht ein ohne Klinik. Sie sollten ihn gut beobachten und sich sofort melden, wenn sich der Zustand des Tieres wieder verschlechtert. Zu meinem Erstaunen kam der erwartete Anruf in dieser Nacht jedoch nicht mehr.
Dafür klingelte um 7 Uhr morgens mein Handy: Der Wallach läge nun aufgegast und tot in der Box. Zunächst war ich sprachlos und auch entrüstet. Tod in der Box? So viel zum Thema überwachen. Aber was half es? Traurig trank ich meinen Kaffee und machte mich für einen weiteren Praxistag fertig.
Doch um acht Uhr klingelte mein Handy erneut: der tote Wallach sei gerade wieder aufgestanden – ein Wunder. Sofort schwang ich mich in mein Auto und fuhr hin. Es erwartete mich…. das stehende Elend: Der Kreislauf des Wallachs war noch schlechter als am Vortag. Der arme Kerl stand schwitzend und schwer atmend in seiner Box und hatte offensichtlich sehr starke Schmerzen. Die genaue Untersuchung zeigte, dass der Darm sich jetzt nicht mehr normal anfühlte, sondern stellenweise stark aufgegast war. Das sagte mir, dass die Darmbewegung über Nacht nicht besser geworden war. Ich riet erneut dringend zu einer Fahrt in die Klinik. Doch die Besitzer lehnten weiterhin ab.
Ehrlich gesagt hatte ich sowieso ernste Bedenken, ob der Wallach in seinem schlechten Zustand überhaupt noch transportfähig war. Ohne Klinik aber hatte der Wallach meiner Meinung nach keine Überlebenschance, also klärte ich die Besitzer auf, dass man das Tier besser erlösen sollte, um ihm weitere Qualen zu ersparen. Doch zu meinem Erstaunen und Entsetzen wurde auch das abgelehnt. Die Besitzer wollten vielmehr der Natur ihren Lauf lassen und dem Tier die Möglichkeit geben, eines natürlichen Todes zu sterben. Ich war wie vor den Kopf geschlagen und erklärte genau, was das Pferd vor dem Tod noch an Schmerzen zu erwarten hätte. Daraufhin erlaubten mir die Besitzer wenigstens, dem Tier erneut ein starkes Schmerzmittel zu geben. Alles weitere aber wurde rigoros abgelehnt - was ich auch sagte. Ich ließ mir natürlich alles unterschreiben, um rechtlich sauber zu sein, musste aber unverrichteter Dinge gehen. Es war der blanke Horror, Ich fühlte mich so schlecht, richtig mies! Was sollte ich tun? Das Amt anrufen? Die Leute zwingen? Ich war so schrecklich hilflos und litt mit dem armen Wallach, der das sicher nicht verdient hatte. Kurze Zeit später erfuhr ich, dass der Wallach seinem schlechten Kreislaufzustand dann doch recht schnell erlegen ist – ich hoffte, so schmerzfrei wie möglich.
Doch der Fall quälte mich noch den ganzen Tag. Wieder und wieder überlegte, was ich hätte besser machen, wie ich besser hätte reagieren können. Aber ich hätte die Besitzer ja schlecht zur Euthanasie des Wallachs zwingen können. Dennoch: Das nächste Mal bin ich vorbereitet. Das nächste Mal werde ich ganz klar sagen: „Entweder lassen Sie mich das Pferd erlösen oder ich muss Sie wegen Tierquälerei anzeigen.“ Und eine Anzeige beim Veterinäramt steht auch noch auf meiner ToDo-Liste.
Doch ich hoffe, dass es kein nächstes Mal geben wird. Denn, liebe Tierbesitzer, lassen Sie es sich gesagt sein: es gibt durchaus falsch verstandene Tierliebe und ein Tier, das sich bis in den Tod quälen muss, gehört sicher dazu…“
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