Die Geschichte kommt aus einer Zeit, in der ich nicht nur Rinder, sondern vor allem auch Pferde und ein bisschen Kleintiere behandelt habe. An einem Sommernachmittag war meine Tour richtig voll. Außer mir fuhr nur noch ein weiterer Kollege. Der drittletzte Termin, es war schon gegen fünf Uhr, führte mich in einen Reitstall. Dort erwartete mich ein Pferd mit akuter Hufrehe – das ist eine hoch schmerzhafte Entzündung der Huflederhaut (also der feinen Strukturen unter der dicken Hornwand), die häufig fütterungsbedingt ist. Aber erstmal das Pferd ansehen.
Der Schimmelwallach zeigte tatsächlich klassische Symptome. Vorderbeine nach vorne gestreckt, Gewicht komplett auf den Hinterbeinen, beide Vorderhufe fühlten sich warm an und zeigten Entzündungsanzeichen. Also ganz eindeutig ein akuter Reheschub.
Wird man zu so einem Patienten gerufen, kommt es vor allem erstmal darauf an, die Entzündung zu bekämpfen und dem Pferd die Schmerzen zu nehmen. Dafür hat man neben den klassischen Maßnahmen wie Schmerzmittel und Kühlen noch eine weitere Möglichkeit zur Verfügung, an die man heutzutage spontan nicht mehr denken würde. Mein erster Chef war aber vom wirklich alten Schlag und hat mir noch beigebracht, einen Aderlass durchzuführen. Ja, Sie haben richtig gelesen und nein, meine Geschichte spielt nicht im Mittelalter. Bei den „alten Hasen“ war das durchaus noch üblich, auch wenn es heute wohl fast niemand mehr macht. Dabei war diese Behandlungsmethode durchaus effektiv: Man nimmt dem Patienten eine größere Menge Blut ab. Wie viel genau ist abhängig vom Gewicht. Bei einem 500 kg schweren Pferd wie diesem Araber dürfen das maximal 7 Liter sein. Der Hintergrund ist der, dass Hufrehe von Giftstoffen im Blut verursacht wird. Durch den Aderlass verringern wir die Menge an Toxinen. Außerdem nötigen wir den Körper, frische Blutzellen herzustellen. Diese sind deutlich kleiner als die Alten, wodurch sich die Durchblutung in den kleinen Gefäßen der Huflederhaut verbessert.
Man muss allerdings dafür sorgen, dass der Patient genug Wasser zur Verfügung hat und relativ kühl steht, damit der Kreislauf den Blutverlust gut verkraften kann. Und man muss dem Eigentümer natürlich beibringen, dass man seinem Pferd einen Eimer Blut abnehmen will. Nach einem ersten ungläubigen Blick stimmte die Besitzerin zu. Allerdings mit dem Zusatz, sie könnte das nicht mit ansehen. Also fanden sich zwei andere Helfer, die sich bereit erklärten, das Pferd zu fixieren. Der Araber war nämlich nicht wirklich kooperativ. Ach ja und einen Eimer mit Literskala gab es auch nicht. Also wurde kurzerhand ein Litermaß aus der Küche der Stallbetreiber geholt. Nicht ideal, aber muss man halt zwischendrin umkippen. Irgendwann waren alle Vorbereitungen getroffen. Eine Reiterin stand vor dem Pferd und hielt Führstrick und Nasenbremse. Der Stallbesitzer stand etwas hinter mir mit einem Eimer zum Umkippen des Blutes. Ich hatte eine dicke Kanüle in der Hand, staute die Vene, die ich vorher natürlich rasiert und desinfiziert hatte und stach zu. Und es lief. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das Blut lief in das Litermaß und das Pferd stand. Die Anspannung des Tieres war spürbar, aber für den Moment stand es still. Gespannt wie eine Bogensehne.
Gut... oder auch nicht. Denn als ungefähr ein dreiviertel Liter im Messbecher war, entlud sich die Anspannung. Ohne weitere Vorwarnung stieg der Wallach hoch auf die Hinterbeine. Ich stand nah an der Schulter des Tieres, deshalb kam ich glimpflich davon. Ich wurde nur nach hinten gestoßen und fiel ins Gras. Eigentlich keine große Sache, wenn ich keinen knappen Liter Blut in der Hand gehabt hätte. Das schwappte natürlich in hohem Bogen aus dem Litermaß und verpasste mir die ekligste (naja beinahe) Dusche meines Lebens. Haben Sie sich schon mal ein Glas Wein oder Cola über die Klamotten gekippt? Dann wissen Sie, wie erstaunlich groß die Flecken sind, die dabei entstehen. Nur dass Wein nicht aus Litergläsern getrunken wird.
Die Frau am Kopf des Pferdes wurde vom Huf an der Stirn gestreift. Doch außer einer kleinen Beule ist ihr zum Glück nichts passiert. An den Araber war kein Herankommen mehr. Daher entschied ich, die Behandlung abzubrechen. Am nächsten Tag ging es ihm auf Grund der Schmerzmittel, die ich ihm zum Glück vor dem Aderlass dennoch gegeben hatte, deutlich besser.
Ich aber war über und über mit Blut bedeckt: mein Gesicht, meine Arme und Beine, die Klamotten… rot. Und ich hatte noch zwei Termine vor mir. Also mit dem Stallbesitzer eben zu seinem Haus, die Gruppe Mountainbiker, welche mich komisch anguckten, freundlich grüßen und zumindest das Gesicht waschen. Dann den Kollegen anrufen, dass er meine Termine übernimmt. Wir verabredeten uns zu einer kurzen Übergabe an meiner Wohnung. Er wartete schon auf mich. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht und verkündete meinen neuen Spitznamen: Vampirella
Comments