Eines schönen Herbstabends wurde mir ein Fundkater gebracht. Er war klein, wirklich herzig und halb verhungert. Vor Schwäche brach er auf dem Tisch zusammen. Also bekam er im Schnellverfahren eine Infusion und kam auf unsere Station. Intensivpatienten werden nachts überwacht und ich hatte Zeit nachzudenken. Das war schon eine merkwürdige Katze, nichts passte wirklich zusammen. Sie war noch klein, aber dafür zu groß. Auch sah sie nicht typisch aus für eine normale Hauskatze. Irgendwann in der Nacht kam mir die Erkenntnis: Eine Wildkatze! Für eine Wildkatze würden die widersprüchlichen Daten und Beobachtungen passen!
Und nun begann erst die richtige Arbeit, denn alles war plötzlich anders. Das Gesetz verbietet die Haltung von Wildtieren in Privathaushalten. Die einzige Ausnahme sind kranke oder verletzt aufgefundene Tiere, die später wieder ausgewildert werden sollen. Obendrein ist die Wildkatze eine geschützte Art. Ich stand vor einem Problem – nein vor vielen. Wohin mit dem kleinen Wildfang? Ins Tierheim konnte ich ihn schlecht überstellen. Also musste ich am Morgen mit allen möglichen Behörden sprechen, die ein Wörtchen mitzureden haben, wenn es um die Unterbringung von Wildkatzen geht. Das Telefon stand nicht mehr still. Immerhin, es wurde sehr schnell ein Biologe geschickt, um eine Haarprobe für den Gentest zu nehmen.
Der kleine Kater musste inzwischen intensiv gepflegt werden. Vermutlich aufgrund der körperlichen Schwäche und einer psychischen Ausnahmesituation ließ er sich relativ einfach händeln. Das war außergewöhnlich. Normalerweise beißen und kratzen junge Wildkatzen, als ginge es um ihr Leben.
Während er sich erholte, wurde er aber immer scheuer. Er benutzte keine Katzentoilette und wirkte zunehmend gestresster. Bald reichte ihm auch meine größte Katzenbox nicht mehr. Er brauchte jetzt dringend mehr Freiraum. Doch das Ergebnis des Gentests fehlte noch; vorher dürfte ich ihn nicht frei lassen. Er war auch noch zu jung, um allein draußen zu überleben.
Die untere Naturschutzbehörde half mir schließlich weiter: Wir dürften das Wildkaterchen in das größere Gehege einer erfahrenen Tierpflegerin umsetzen. Sofort merkte man den Unterschied. Mit deutlich weniger Stress und viel mehr Platz wuchs das kleine Katerchen zu einem wirklich wilden, großen Kater heran.
Wochen später kam endlich das Ergebnis vom Gentest. Es war eindeutig: der kleine verhungerte Kater war eine echte Wildkatze. In seinen Genen gab es keine Spur von Hauskatze.
Nun mussten wir ihn also auswildern. Wir suchten mit großer Sorgfalt eine Stelle aus, die ihm einen schützenden Wald und sogar einen kleinen Bachlauf bot. Seine Pflegerin brachte ihn in einem Käfig hin und stellte zur Sicherheit einen Wassernapf hin. Zudem legte sie vor seinen Augen ein paar Beutetiere aus. Dann öffnete sie den Käfig und ging fort. Als sie Stunden später zurückkam, war der Kater verschwunden.
Die Pflegerin kehrte regelmäßig zu der Stelle zurück, um neue Beutetiere auszulegen und nach dem Wildkater zu schauen. Doch die nächsten Beutetiere rührte er nicht mehr an. Dafür fand die Pflegerin Wildkatzenhaare an den Bäumen in der Nähe. Nun war sie zufrieden, denn die Haare gaben ihr die Gewissheit, dass der Wildkater in dieser Gegend selbständig überleben konnte.
Über den Winter wurde unser Wildkater nicht gesehen. Im Sommer aber konnte seine Pflegerin unseren Schützling noch ein letztes Mal beobachten: Der Kater lief plötzlich über die Wiese vor ihrem Haus. Er hatte wohl die Menschen beim abendlichen Gespräch gehört und ihre Stimme erkannt. Als sie ihn ansprach, blieb er stehen und schaute sie intensiv an. Ein Moment der Spannung, der die Zeit kurzfristig anzuhalten schien. Doch schon war er vorbei; der Kater drehte sich um und verschwand in sein freies Leben. (ücv)
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