Was meinen Sie? Das sollte kein Widerspruch sein. Da haben Sie Recht: Das sollte es nicht. Doch wie sieht die Realität aus?
Gerade in der Nutztierpraxis war der Tierarzt schon immer gezwungen, Kompromisse einzugehen. So manches Medikament, das wirksam wäre, ist für einige Tiere einfach nicht zugelassen. So gibt es zum Beispiel keinen Schleimlöser, der für Milchkühe zugelassen ist. Oder die Wartezeit ist so lang, dass sie eine Anwendung uninteressant macht. Das ist die Zeit, die nach der Medikamentengabe vergehen muss, bis die Milch oder das Fleisch wieder als Lebensmittel verwendet werden dürfen. Schon diese Situation konnte mitunter frustrierend sein.
Doch seit dem 28.01.2022 ist noch einmal eine gute Schippe oben drauf gekommen. Denn an diesem Tag trat das neue TAMG, also das Tierarzneimittelgesetz in Kraft. Darin steht unter Anderem und einfach gesagt, dass Tierarzneimittel nur noch streng nach Zulassung wie sie im Beipackzettel steht, angewendet werden dürfen. Im ersten Moment würde man als Außenstehender denken, ja und, was soll’s? Ich möchte Ihnen nahebringen, warum es diese Vorschrift in sich hat.
Ein Aspekt ist, dass es einige Wirkstoffe gibt, für die der Patentschutz ausgelaufen ist und die von verschiedenen Herstellern angeboten werden. So wird ein Antibiotikum, nennen wir es einfach mal Bactiex, von den Firmen A, B und C vertrieben. Die Zusammensetzung ist jeweils genau die Gleiche, also auch die Wirkung. Doch die Firma A hat ihr Medikament für Lungenentzündung beim Kalb zugelassen, die Firma B für Euterentzündungen und Firma C für Nabelentzündungen. Das heißt, ich darf als Tierarzt das Bactiex von Firma A nicht mehr bei Nabelentzündungen einsetzen. Dafür muss ich es von Firma C kaufen. Ich muss also entweder meine Apotheke aufstocken und das Bactiex von allen drei Firmen vorrätig haben oder ich setze es nur noch für eine der Erkrankungen ein und kann die anderen dann halt nicht mehr so gut behandeln (wenn überhaupt) oder ich arbeite praktikabel aber gesetzeswidrig weiter wie bisher.
Ein anderer Aspekt. Manche Wirkstoffe sind für unterschiedliche Erkrankungen in unterschiedlichen Dosierungen zugelassen. Ein Beispiel, dass mich ständig in der Praxis trifft, ist die sogenannte Coli-Mastitis bei Milchkühen. Das ist eine Euterentzündung, die sehr akut auftreten und im schlimmsten Fall zu einer Blutvergiftung und dem Tod der Kuh führen kann. Ein Antibiotikum, das bei uns in der Praxis in diesem Fall erfolgreich eingesetzt wird, nennen wir es Antibak, kann in zwei unterschiedlichen Schemata angewendet werden. Entweder in einer niedrigen Dosierung über 3 Tage oder in der doppelten Dosis als Einmalgabe. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die zweite Variante diejenige ist, die den größten Heilungserfolg verspricht. Durch den schnellen Verlauf der Erkrankung ist ein hoher Wirkstoffspiegel im Blut besser, als ein niedriger, auch wenn dieser dann länger anhält. Der Haken daran: laut Beipackzettel ist für Euterentzündungen nur die niedrige Dosis zugelassen. Die zweite Variante ist nur bei Lungenentzündungen erlaubt.
Jeder Tierarzt hat 11 Semester studiert! Wir haben uns im Studium auch mit Pharmakologie rumgeschlagen. Also haben wir gelernt, welche Wirkstoffe und Wirkstoffgruppen warum und wie wirken. Jeder Tierarzt macht im Laufe seines Berufslebens seine Erfahrungen. Findet heraus, welche Medikamente bei welchen Erkrankungen wirken und welche eher nicht. Dieses Wissen wird teilweise ja auch von den erfahrenen Kollegen an die Jungen weitergegeben. Und es ist nicht statisch. In einem Jahr kann bei der Kälbergrippe zum Beispiel Bactiex sehr gut wirken. Im nächsten ist ein anderer Erreger am Werk, der am Besten mit Antibak bekämpft werden kann. Doch seit dem 28.1.2022 zählen weder Studium noch Erfahrung. All unser Wissen und Können ist Zweitrangig. Denn das Einzige, was man darf, ist genau lesen, was in der Packungsbeilage steht.
Und wenn man das gelesen hat, muss jeder Tierarzt für sich eine Entscheidung treffen. Behandle ich die Kuh so, wie ich es laut Gesetz darf, in dem Wissen, dass es ihr wahrscheinlich nicht helfen wird? Oder schreibe ich die nötige Erkrankung auf den Abgabebeleg und behandle sie so, wie meine Erfahrung es mich gelehrt hat, in dem Wissen, dass es nicht legal ist? Was würden Sie tun?
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